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Vorwort zu meinem Buch "Obdachlos"

Vorwort von Frank Baust

Man trifft sich immer zweimal im Leben!? Das ist keine Frage. Eher eine Tatsache, die sich immer wieder bewahrheitet. Die modernen Mittel der Kommunikation tragen oft mehr dazu bei, als man denkt …

An einem langweiligen Sonntagnachmittag saß ich an meinem Laptop. Ziellos surfte ich im Internet und suchte nach alten Bekannten und Ereignissen der Vergangenheit. Dabei kam mir auch meine damalige Arbeit im Obdachlosenheim »Wichernheim« in den Sinn. Als ich daran dachte, verspürte ich ein leichtes Sodbrennen. Immerhin war ich dort einige Jahre lang beschäftigt. Als ich dort anfing, beflügelte mich mein jugendlicher Idealismus. In kleinen Gruppen betreute ich die Klienten des Heimes bei ihrer tagesstrukturierten Tätigkeit. Eine Arbeit, die mit Menschen zu tun hatte, die am Rande unserer Gesellschaft stehen, eine Arbeit, von der ich innerlich total überzeugt war. Doch der Blick hinter die Kulissen enttäuschte mich bitter.

Ich zögerte. Sollte ich einfach mal dort auf der Homepage stöbern? Ich folgte einem inneren Sog. Denn das Thema der obdachlosen Menschen in diesem Heim bewegte mich nach einigen Jahren immer noch tief. Was mich damals bei dieser Arbeit erfüllte, ist mir noch sehr vertraut. Es war mein tiefster Wunsch, Menschen, die ganz unten sind, zu helfen, damit sie das Vertrauen in sich selbst zurückgewinnen. Menschen, die wohnungslos sind, abhängig von Drogen, Alkohol und Medikamenten, körperlich und seelisch am Ende. Menschen, die vielleicht selbst schuld an ihrer Misere sind. Aber auch Menschen, die nur viel Pech im Leben hatten oder auch keine Familie, die ein sicheres Netz bietet, in das man sich fallen lassen kann. Na ja, eben ein sehr schwieriges Klientel.

Für diese Menschen braucht man sehr viel Fingerspitzengefühl, Nächstenliebe und vor allem Respekt vor ihrem Schicksal. Eine ganz normale christliche Haltung, die meiner tiefsten Überzeugung entspricht. Wie sonst, ohne diese ethische Haltung, sollen Menschen, die ganz unten sind, wieder hochkommen? Doch wie oft hatte ich diesen menschlichen Aspekt in meinem Arbeitsalltag vermisst! Eine menschliche Haltung wäre doch so einfach gewesen. Sehr selten habe ich dort erlebt, dass den Obdachlosen Wege zu ihrer Selbstständigkeit gezeigt wurden. Vielmehr sollten sie in den Werkstätten lernen, wie man einem geordneten Arbeitsalltag nachgeht. Doch darüber hinaus gab es so gut wie keine Hilfe.

In den Jahren meiner Tätigkeit haben sehr wenige den Sprung zurück ins normale Leben geschafft. An einer Hand könnte ich sie abzählen. Diese wenigen hatten sich wahrscheinlich innerlich einen Plan dafür zurechtgelegt. Oder vertrauten sie einfach nur ihrer inneren Kraft und ließen sich deshalb nicht brechen?

Für diejenigen, die es geschafft haben, war es gewiss wie ein Ritt auf der Kanonenkugel. Ich hoffe für sie, dass sie immer von Gottes Hand behütet bleiben. Denn sie benötigen seinen Schutz oder einfach nur die Hilfe seines Bodenpersonals, doch leider hat es oft genau daran gemangelt.

Wie auch immer, im World Wide Web findet man die unglaublichsten Antworten auf seine Fragen. Genauso war es an diesem Nachmittag. Ein Schlagwort in die Suchmaschine und das Bild einer Frau tauchte auf, von der das Heim sagte: »Ja ja, wieder eine von denen, die ganz unten gelandet sind. Die kommt eh nicht mehr auf die Füße. Wer einmal im Obdachlosenheim gelandet ist, kommt immer wieder.« Doch weit gefehlt. Die Frau, die ich auf diesem Bild sah, kannte ich aus dieser Zeit. Sie gab mir die Antwort auf meine Frage, ob es jemals einen Absprung von ganz unten geben kann.

Das Bild dieser Frau lächelte mich aus meinem Laptop freundlich an. Ohne auch nur eine Sekunde zu zweifeln, erkannte ich Frau Völkner auf ihrer Website. Eben noch erschöpft vom Surfen wurde ich sofort hellwach, als ich ein Kapitel der Erstauflage ihres Buches über ihre Obdachlosigkeit entdeckte. Ich konnte es einfach nicht glauben! Sie schrieb über ihre Heimkehr nach Heidelberg, ihr Ankommen ganz unten in der Gesellschaft und ihre Erfahrungen bei ihrer Suche nach Hilfe im Obdachlosenheim.

Wie wahr, wie wirklich, wie traurig, dachte ich. Jede Zeile ihres Buches verschlang ich, so genau beschrieb sie alles: die Trostlosigkeit des Heims, ihre Angst und Hilflosigkeit. Wie kam mir das bekannt vor! Ich fühlte mich in der Zeit zurückversetzt. In meinen Ohren dröhnten die lallenden Stimmen der Betrunkenen. Der Geruch von verdunstendem Alkohol stieg mir in die Nase, von Verzweiflung gezeichnete Gesichter starrten mich an. Doch ich erinnerte mich auch an das Gesicht, das mich immer anlächelte, trotz der Verzweiflung, die dahinter verborgen lag. Dasselbe Gesicht schaute mich jetzt wieder auf dem Bildschirm an. Es war das Gesicht von Christiane Völkner. Genauso wie vor Jahren. Sehr gut konnte ich mich an diese Frau erinnern.

Sie war eine der wenigen, die ihr Leuchten in den Augen behielt, genauso wie ihren Stolz. Sie hat es geschafft, war mein erster Gedanke. Sie ließ sich nicht brechen. Entgegen aller Behauptungen hat sie ihr Schicksal selbst in die Hand genommen und ihren Weg gemacht. Wie froh war ich nun darüber, dass mein Glaube an Menschen, die einfach nur Hilfe suchten, von anderen nicht zerstört werden konnte.

Das hat es mir leicht gemacht, direkt und ohne zu zögern mit Christiane Völkner Kontakt aufzunehmen. Umso mehr freute ich mich, sie in Heidelberg zu treffen und mich von ihrem Weg zu überzeugen. Dann stand sie vor mir. Ihre Ausstrahlung war die Antwort auf meine Frage. Eine tolle Wohnung hat sie sich geschaffen sowie ein sehr angenehmes berufliches Umfeld. Voller Stolz, aber auch etwas schüchtern empfing sie mich und erzählte mir, wie ihr Weg nach dem Obdachlosenheim weitergegangen war. Da war es wieder, das Leuchten in ihren Augen, das ich so gerne auch bei anderen gesehen hätte.

Christiane, wie ich sie heute nennen darf, ist wohl eine der ganz großen Ausnahmen. Eine Ehemalige? Eine von denen, die ganz unten angekommen ist? Eine Obdachlose, die immer wieder ins Heim zurückkommt? Nein, eben nicht! Sie ist eine, die sich nicht unterkriegen ließ. Der man nicht einfach etwas vormachen konnte. Sie wusste von innen heraus, dass man auch von ganz unten wieder auf die Beine kommen und seine Ziele erreichen kann, Wohnung und Arbeit finden, sogar ein eigenes Unternehmen gründen.

Es ist alles machbar, wenn man den eigenen Willen wie einen Schatz hütet und an sich glauben kann, in guten und in schlechten Zeiten. »Wer einmal bei uns war, kommt immer wieder …« Was für ein Quatsch!

Christiane hat sich nach Hilfe gesehnt in einer Situation, in die jeder von uns schlittern kann, und das schneller, als man glaubt. Ob selbst verschuldet oder durch ein Zusammenkommen schicksalhafter Ereignisse. Christiane hat es geschafft.

Man trifft sich immer zweimal im Leben!? Das ist keine Frage, sondern die Wahrheit. Die Geschichte von Christiane enthält den tiefen Glauben an sich selbst. Diese Wahrheit hat sie in mir bestärkt. Eine Wahrheit, die mich den Rest meines Lebens begleiten wird.

»Ein schönes Geschenk. Danke, Christiane.«

Frank Baust